Sind Sie ein Querulant, Herr Zollinger?

 

Thomas Zollinger hat für heute einen «Stadtspaziergang mit Nacktakzenten» angekündigt. Im Gespräch erzählt er von der Kunst des Nackt-Seins und seiner Freude an Grenzgängen.

 

Interview: Alice Henkes

 

Ein Stadtspaziergang mit Nacktakzenten – was ist das?

Thomas Zollinger: Man denkt oft, das seien Nacktwanderer, die in die Stadt kommen. So ist es nicht. Der Schwerpunkt liegt auf den Akzenten.

 

Was bedeutet das?

Es gibt beispielsweise Nacktknäuel, da stehen die Leute nahe zusammen und drehen sich um die eigene Achse.

 

Verstehen Sie, dass Ihre Aktionen einige Menschen irritieren?

Ja, ich kann das nachvollziehen. Es ist wirklich neu, wenn Leute in der Stadt plötzlich nackt dastehen. Das kann schon irritieren.

 

Ist es Ihr Anliegen zu irritieren?

Ich möchte nur kurz irritieren, letztlich möchte ich, dass die Nackten ihr Ding machen und die Passanten auch ihr Ding machen. Und das soll aneinander vorbeigehen, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

 

Sind Nackt-Performances Exhibitionismus?

Exhibitionismus ist eine Zurschaustellung zu sexuellen Erregungszwecken. Meine Projekte zeigen entsexualisierte Körper, nur sind sie nicht aus Bronze oder Stein, sondern ganz real.

 

Was ist Kunst am Nackt-Sein in der Öffentlichkeit?

Einfach nackt durch die Stadt laufen, das ist keine Kunst. Das kann jeder. Ich möchte ermöglichen, dass der nackte Körper, genauso wie ein schwarz gekleideter Mensch als Farbe selbstverständlich wird. In Biel läuft ja jemand immer grün gekleidet herum. Das ist völlig normal.

 

Sie vergleichen den nackten Körper mit einem leeren Zimmer, einem leeren Blatt Papier. Wie darf man das verstehen?

Am schönsten finde ich den nackten Körper, der gar nichts macht. Der nackte Körper, egal wie er ist, ist ja schön, wenn er einfach nur dasteht. In dieser Beschränkung wird die Schönheit jeder Art von Körper sichtbar. Wenn die Person Ja sagt zu ihrem eigenen Körper, das ist dann eine starke Botschaft.

 

Wie finden Sie die Leute, die an Ihren Projekten teilnehmen?

Viele kommen über das Internet, teilweise auch über Performance-Anlässe. Damit hat sich ein Pool von 10 bis 30 Leuten gebildet.

 

Was sind das für Menschen?

Leute aus allen Schichten, vom Arbeiter bis zum Juristen.

 

Sie zeigen keine Idealkörper. Ist das Ihr Konzept?

Ich hab Freude an einem sogenannten schönen Körper, aber ich habe auch Freude an einem so genannten nicht schönen Körper. Wenn dieser Mensch sich gerne zeigt damit. Mich fasziniert dann ein nicht schöner Körper mehr als der schöne, denn in der Präsentation des nicht schönen Körpers ist Energie drin. Jemand, der Ja sagt zum eigenen nackten Körper, der eigentlich nicht schön ist, der muss einige Widerstände der Gesellschaft durchbrechen.

 

Suchen Sie gezielt nach imperfekten Körpern?

Nein, ich nehme die Leute, die kommen, sie müssen ins Ganze passen. In Zürich war ein sogenannt Behinderter dabei, und der hat gut reingepasst. Ich will nicht nur Menschen mit nicht perfektem Körper. Ich möchte eine gute Mischung. Auch in Bezug auf das Alter. Ich möchte Menschen von 25 bis 65.

 

Nacktsein als künstlerische Geste, das ist doch nicht mehr neu, das gab es schon in den 1920er-Jahren.

Im Theater oder im Kunstraum ist Nacktheit nicht mehr von Interesse. Aber im öffentlichen Raum, da gibt es nur Spencer Tunick. Im Internet habe ich sonst nichts gefunden über Nacktsein im öffentlichen Raum als Kunst. Was es überall gibt, sind Nacktwanderer, aber das ist keine Kunst, das sind Nudisten.

 

Was unterscheidet Nacktwanderer von Kunstnackten?

Nacktwanderern geht es nicht um die Inszenierung des Körpers, sondern um das Wandern oder eine politische Aussage.

 

Was unterscheidet Sie von Spencer Tunick?

Der macht Massenanordnungen. Bei mir sind die Leute, die teilnehmen, als Individuen erkennbar.

 

Früher haben Sie Langzeit-Performances mit alltäglichen Handlungen wie Essen und Tee trinken ausgeführt.

Das waren Konzept-Arbeiten wie die «12 Monate Performance», in denen es darum ging, elementare Handlungen zu ritualisieren. Ich machte das damals ziemlich konsequent. Und das führte dazu, dass ich meine Existenz investierte und schaute, was macht der Staat, die Gesellschaft damit.

 

Sie haben das Leben zur Kunst gemacht und von der Fürsorge gelebt. War das ein rebellischer Akt gegen den Staat?

Es war eine Grenzauslotung.

 

Sind Sie ein Querulant?

Nein. Die Leute sind immer überrascht, dass man mit mir gut zusammenarbeiten kann. Und ich arbeite mit grossen Gruppen, also kann ich kein Querulant sein, bitte sehr! Aber in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit bin ich ein Querulant. Man hat schon vor 15 Jahren nicht verstanden, was ich mache – nur Gehen, nur Stehen, ist das Kunst?

 

Was ist die Kunst am Gehen?

Im Gehen ist alles drin. Tanz, Theater, Musik und das Visuelle. Man geht durch die Stadt oder durch eine Landschaft, da hat man eigentlich einen Nonstop-Film der Realität.

 

Sie wollen auch nicht-bewilligte Aktionen durchführen und dafür Bussen in Kauf nehmen. Ist das Masochismus?

Das hat nichts mit Masochismus zu tun. Ich habe Spass an Grenzauslotungen. Ich bin weder Masochist noch Rebell oder gar Provokateur. Ich möchte für das, was mich interessiert, alle paar Jahre den öffentlichen Raum benutzen ohne Kompromisse. Andere haben einen Cadillac, ich investiere eben in solche Auslotungen.

 

(Bieler Tagblatt 17.05.2014)