Nacktsein als Konzept und Performance



Roberta Weiss-Mariani im Gespräch mit Thomas Zollinger



Eine Fussgängerbrücke unter der Autobahn, das Gedröhne der Motoren inmitten einer herrlichen Flusslandschaft und einer speziellen Sonneneinstrahlung. Ein nackter Mann steht dort auf der Brücke. Er bewegt sich nicht und lässt die Sonnenstrahlen von seiner linken Seite auf die rechte wandern – dreiundzwanzig Minuten lang. Thomas Zollinger scheint mit dieser Performance seinem künstlerischen Ziel einen grossen Schritt näher gekommen zu sein: Seit über fünfzehn Jahren erprobt und inszeniert er minimalste Handlungen wie „Wasser tragen oder trinken“, „langsam gehen“, „gehen an Ort“ dann „gehen um die eigene Achse“ und schliesslich „stehen“. Performerinnen und Performer– in Gruppen oder einzeln, einst bekleidet heute nackt. Nackt draussen, im öffentlichen Raum, Naturphänomenen wie dem Licht sowie anderen äusseren Einflüssen ausgesetzt, welche wiederum zu Impulsgebern für die Performance werden. Solche Begebenheiten, Verwirrungen und Umkehrungen motivieren den Künstler Thomas Zollinger beharrlich auf seinem Weg zur Minimalisierung der Bewegungen, der Handlungen und des Stofflichen weiterzugehen.

 

Frage: Die Platzierung der Performance in Raum und Zeit ist das einzige künstlerische Zutun in Ihrem letzten Werk. Wie haben Sie den spezifischen Ort unter der Autobahn dafür gefunden?

 

Thomas Zollinger: Es war die Idee des stehenden Mannes, eines Nacktwanderers. Er hat vom Lichtstreifen geschwärmt, der zwischen den Autobahnspuren der Sittertobelbrücke auf die darunterliegende Fussgängerbrücke fällt. Statt ihn wollte ich das Licht wandern lassen. Solch Umkehrungen gefallen mir. Da hat es Widerstand drin, Irrititation.

 

Frage: Irritationen – die Nackt-Performance hat wohl auch die Passantinnen und Passanten etwas irritiert, vielleicht auch ihr sittliches Empfinden verletzt?

 

Thomas Zollinger: Vielleicht. Jedenfalls wird das gerne von Behörden so gesehen. Die gesellschaftliche Realität sieht aber anders aus. Im Beispiel sagten die ersten Velofahrer „Merci“ dass sie durchfahren konnten, der letzte motzte „was isch da los“ und „schämed öi“, das tönte ziemlich aggressiv. Alle andern liessen sich nicht stören. Sie joggten, spazierten oder fuhren mit dem Velo zwischen uns durch, als wären wir Arbeiter, die hier einen Auftrag zu erledigen hatten. Das ging mit einer Selbstverständlichkeit aneinander vorbei, die wohltat.

 

Frage: Konnten die Passanten irgendwie erkennen, dass es sich hier um etwas Inszeniertes handelt und nicht – sagen wir mal - um Exhibitionismus? Ich denke an eine Frau allein auf der Brücke unter der Autobahn.

 

Thomas Zollinger: Wir verhielten uns unspektakulär. Wir waren nicht aufsässig. Mit Exhibitionismus hat das nichts zu tun. Andrerseits war in unserem Team auch eine Frau dabei, die die Szene filmte. Die Videokamera war fester Bestandteil der Performance. Das konnte den Passanten Sicherheit geben. Sie sahen, dass die Szene festgehalten wird. Mit dem Filmen entstand tatsächlich eine Ebene der Inszenierung. Da war ein bewusster Ablauf. Das strahlt auf den Passanten aus und wirkt beruhigend.

 

Frage: Wie wichtig sind denn diese Abläufe oder Sequenzen in Ihren Werken? Gibt es doch eine Art übergeordnete, geplante Choreografie?

 

Thomas Zollinger: Nicht immer. Es kann schon eine Idee aus dem Nichts sein, die spontan umgesetzt wird. Lieber sind mir aber Konzepte und vorbereitete Abläufe wie im Beispiel der Brücke: Die Grobidee war da. Nicht nur der Lichtstreifen war reizvoll, auch der Kontrast zwischen dem Beton, dem Lärm und dem nackten Körper. Es kamen verschiedene Ideen zusammen, zum Beispiel dass wir von weit weg auf die Kamera zugehen. Ein anderer schlug vor, im Zick-Zack über die Brücke zu gehen. Dann kam die Idee, das gleiche auf engem Raum durchzuführen, und so weiter.

 

Frage: Und welche Version haben Sie schliesslich umgesetzt?

 

Thomas Zollinger: Alle. Sie funktionierten aber nicht alle gleich gut. Wichtig war mir, dass es sich um langsame, konzentrierte Bewegungen handelte, sie mussten den Charakter eines Körpers als Plastik im Raum haben. Vor allem aber musste es in Bezug auf das Performative stimmen. Ich wollte nichts Expressives, Gag- oder Happeningartiges. Ideen von anderen nehme ich gern auf, aber sie sollen präzis weitergearbeitet werden.

 

Frage: Was reizt Sie überhaupt, Performances im öffentlichen Raum zu machen?

 

Thomas Zollinger: Ich kenne nichts anderes. Schon vor 15 Jahren erklärte ich im Projekt des 12stündigen Gehens ganz Biel und Seeland zum Handlungsraum. 30 Personen waren involviert. Die Medien haben angenehm darüber berichtet. In einem anderen Projekt hatte ich ein leeres Warenhaus zur Verfügung, das war 168 Stunden durchgehend offen. Es war immer mindestens eine Person drin. Eine andere zirkulierte mit einem Wasserkessel in der Stadt.

 

Frage: Ihre Schilderungen erinnern mich doch sehr an fernöstliche Rituale und Praktiken oder an eine Kunst für die Beteiligten selbst und nicht gemacht für ein Publikum. Dieses scheint gar nicht existent zu sein.

 

Thomas Zollinger: Ich nehme Publikum nicht als solches wahr. Das sind für mich stehende, sitzende, gehende oder sich bewegende Körper. Sozusagen ein Angebot für Bezugnahme vor einem grösseren Publikum, sagen wir dem mal Universum. Mir kommt das Bild von frühen Butoh-Tänzern in den Sinn, die ihr Ding in einem abgelegenen Hühnerhof durchführten, mit nur wenigen Zeugen; denn wichtig war ihnen genau dieser Ort und die bestimmte Zeit. Dieses Bild unterstützt mich, ob abseits auf einer Holzbank auf einer Appenzeller Anhöhe oder im Zentrum einer Stadt, ob die Medien darüber berichten oder nicht. Die Medien sind aber wichtig. Nur dann finde ich die Gesellschaft im weitesten Sinn als mögliches Publikum.

 

Frage: Und in den Medien möchten Sie ihre Performances im Kunstkontext sehen. Wo binden Sie sich hier an?

 

Thomas Zollinger: Die Medien haben meine künstlerische Arbeit bisher korrekt vermittelt und eingeordnet. Sicher knüpfe ich kunsthistorisch an minimale Tendenzen an, ganz weit zurück wäre Fluxus zu nennen. Ich möchte radikalisieren, beispielsweise verzichte auf Objekte und Material. Auch betreibe ich Performance nicht im Sinn von Vorführung vor Publikum. Mit diesem Verständnis situiere ich mich am Rand der Performance-Szene. Ich bin beeinflusst von Tanz- und Theaterrichtungen wie eben Butoh, aber auch Grotowski, der neben dem Focus auf der Körperperformance die Rolle des Zuschauers gründlich thematisierte. Leider sind seine diesbezüglichen Fragestellungen vergessen gegangen.

 

Frage: Wann haben Sie eigentlich mit Nackt-Performances begonnen?

 

Thomas Zollinger: Das war vor etwa 4 Jahren mit der Serie der 24 sehr langsamen Nacktgehen. Der Weg zu Nacktperformances folgte einer inneren Logik: Vor 15 Jahren wollte ich Objekte und Materialien weghaben; es ging mir nur noch um den Körper im Raum. Dann liess ich mehr und mehr die äusseren Bewegungen weg und kam zu den minimalen Handlungen des Gehens und des Stehens. Ein nächster konsequenter Schritt war, auch noch die Kleider wegzulassen.

 

Frage: So klein scheint mir diese letzte Konsequenz nun auch nicht, insbesondere wenn die Performances nicht in geschlossenen Räumen sondern in der Öffentlichkeit, im öffentlichen Raum geschehen.

 

Thomas Zollinger: Klar, anfangs war ich auch vorsichtig. Ich wusste nicht, auf wie viel Interesse ich bei den mir bekannten Leuten und den Teilnehmenden stossen würde. Aber warum soll, was auf der Bühne oder im Kunsthaus längst gang und gäbe ist, nicht auch im Stadtraum möglich sein? Hier gibt es nackte Skulpturen aus Stein gemeisselt, aber reale Kunstnackte gibt es nicht. Ich sehe die Nackt-Performance als ein radikales Beispiel für Kunst im öffentlichen Raum. Im Unterschied zu Spencer Tunick, wo der Einzelne in der Masse verschwindet, ist bei uns jeder exponiert.

 

Frage: Wo fand denn Ihre erste Nackt-Performance im öffentlichen Raum statt?

 

Thomas Zollinger: Das war im Jahr 2009 mit dem „Naked Ufo“, auf dem Zentralplatz in Biel. Meine Performance drängte sich auf zur Eröffnung der Plastikausstellung „Utopics“. Gemäss Programm sollten sich in einem Schaufenster Naturisten mit Fotos und ihren Ideen präsentieren. Da wollte ich mit realen Nackten Präsenz markieren. Es waren auch einige Naturisten dabei, die so dazu beitrugen, Nacktsein auch auf öffentlichem Terrain „Wirklichkeit" werden zu lassen und die Utopie entsprechend aufzulösen.

 

Frage: Gab es nie Probleme mit Behörden und Bewilligungen?

 

In Biel wurde die Performance bewilligt. Dieses Jahr harzte es mit Bewilligungen. So führten wir die Performances halt einfach durch, so am Glattparksee bei Zürich. Auch hier fühlte sich niemand gestört. Einige abendliche Flaneure setzten sich hin oder blieben stehen. Andere wiederum nahmen unser Tun nur im Vorübergehen wahr. Und genau das sehe ich als antizipierten Idealfall.

 

Frage: Wie ist das zu verstehen?

 

Thomas Zollinger: Ich möchte damit sagen, dass für mich eine Performance dann gelungen ist, wenn die Passanten sich an den Nackten so selbstverständlich vorbeibewegen wie die Nackten ihre Performance durchführen. Performative und Alltagshandlung sind gleichberechtigt und ergeben das Gesamtbild oder die Gesamtszene.

 

 

(Das Interview fand im Herbst 2011 statt und ist im Berner Almanach Performance im Dezember 2012 erschienen)