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Berner Zeitung 22.05.1995

Zuschauen genügt hier nicht

Renate Dubach

Was passiert, wenn „Ritual Theater Biel und forumclaque Baden" die Trennung zwischen Schauspielenden und Teilnehmenden aufheben? Das irritierende Ergebnis war im Berner Breitschträff sechs Stunden lang zu erleben.

Der Berner Breitschträff hat sich in ein Irrenhaus verwandelt. In eines jedenfalls, wie wir es vom Film her zu kennen glauben. Gegen zwanzig Frauen und Männer befinden sich im praktisch leeren Raum. Einige sitzen auf Stufen und einem etwas erhöhten Podest, andere spazieren oder marschieren planlos umher, einer windet sich um eine Stützsäule, einer zuckt spastisch, einer wiegt sich rhythmisch, eine glotzt mit Kuhaugen in die Leere.

Der grosse Unterschied zur Filmirrenanstalt: Im „Ritual Theater" spricht, schreit, lacht oder weint niemand. Das einzige Geräusch, das entsteht, sind Schritte auf dem knarrenden Holzfussboden. Von der Wahrnehmung nicht ganz ausgeschaltet werden die Geräusche des nahen Trams, das Schwatzen und Lachen der vorbeipromenierenden Leute, ihre verwirrten oder amüsierten Blicke durch die Fenster.

Drinnen herrscht ein Dreiviertelstunde lang Bewegung, dann Ruhe für 15 Minuten. Zur vollen Stunde bringt eine Wasserträgerin einen Kessel Wasser und giesst das Wasser in den Ablauf. Anschliessend ist wieder fünfundvierzig Minuten Bewegung angesagt. Sechsmal wiederholt sich dieses Szenario im Breitschträff, von neun Uhr abends bis drei Uhr morgens.

Die eliminierte Handlung

Idee und Konzept zum „Ritual Theater", das insgesamt sechsmal in verschiedenen Schweizer Städten stattfindet, sind von Thomas Zollinger, der damit die „Abgrenzung in Bühne und Zuschauerraum und jene in Schauspieler und Zuschauer thematisieren" will. Diese Form sei aus „Bewegungs- und Stimmereignissen" heraus gewachsen, in denen sich Menschen getroffen und ihr Sein auf Körper und Stimme reduziert hätten. Mit dem „Ritual Theater" geht Zollinger einen Schritt weiter und eliminiert die Handlung: verbales, gestisches und mimisches Erklären fallen weg. Übrig bleibt die strukturelle Unterteilung in äussere Bewegung und innere Bewegung - Stille -, das sechsmalige Wiederholen und die zeitliche Begrenzung auf sechs Stunden.

Wer sich nicht schon vorher an der Reinigung und Räumung der Örtlichkeiten beteiligt hat, erhält bei der Ankunft ein Blatt in die Hand gedrückt, mit der Einladung, sich innerlich auf Raum und Menschen einzulassen. Das tun denn auch die meisten. Erst zaghaft und isoliert, bewegen sich viele allmählich mehr und mehr aufeinander zu und versuchen, immer wortlos, körperlich Beziehungen entstehen zu lassen; nicht tiefe, dauerhafte, sondern flüchtige, fliessende. Wer bloss zuschauen willl, ist hier fehl am Platz.

Und wer ist nun wer?

Ein Unterschied zwischen den Spielenden (Susanne Lehmann, Stefan Kaegi, Thomas Zollinger) einerseits und dem Publikum andrerseits ist zwar nicht ersichtlich, aber im individuellen Bewusstsein durchaus gespeichert - die einen haben schliesslich Eintrittsgeld bezahlt, die anderen nicht.

„Ritual" findet zwar statt - im Sinne eines Vorgehens nach festgelegter Ordnung -, „Theater" ist aber nirgends zu erblicken. Jedenfalls nicht in der gewohnten Art: Es fällt nicht nur die Unterteilung in Publikum und Spielende weg, sondern auch eine Handlung, ein Text. Und Thomas Zollinger schwebt eine Gesellschaft aus lauter „Aktionskünstlern" vor.

 

(6 x 6 Stunden Ritual Theater)