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Bieler Tagblatt 21.07.1997

Performance 12 Stunden gehen

Gehen - ein nicht alltägliches Ereignis

Charles Martin

Eigentlich ist es schon immer da gewesen, wird es immer da sein und doch beginnt es gerade heute, Freitagabend, als wäre es neu. Mitten in Biel. Ich, du er, sie, es; wir alle tun es: gehen. Wir gehen täglich, stündlich, jederzeit, überall und nun geht auch auf dem VB-Unterstand beim Zentralplatz einer, ungewohnt hoch über allen. Er kam kurz vor 20 Uhr, gehend, und er verweilt, gehend. Zwölf Stunden lang.

Tief gehen derweil auch die Wolken über der Stadt dahin. Es regnetr. Christian Mattis auf dem kleinen, beinahe ovalen Dach geht weiter - sein Schirm geht mit und unter ihm gehen Passanten. Den Blick verwundert hebend, schrecken sie leise auf, halten innerlich an und werden zu Akteuren des Staunens.

Die Fenster der kleinen Vierzimmerwohnung an der Neumarktstrasse 21 leuchten hell. Hinter den Scheiben Leere. "Komische Geschichte", meint der Hauswart trocken. "Eine halbe Stunde braucht sie in etwa, um die vier Räume zu durchqueren." Mit sie meint er Verena Gassmann, mit durchqueren meint er das Gehen in Gänseschritten. Der Hauswart schüttelt den Kopf und in dünnen Fäden geht der Regen weich zu Boden, fliesst über die Strasse hinab ins weit verzweigte Labyrinth.

Fliessend geht auch Verena Gassmann. Sie geht den nackten Wänden entlang, die Augen unter scharf konturierten Brauen meist geschlossen. Der Blitz einer Kamera reisst die Häuserfront für einen Augenblick aus dem dunklen Nass - und dann erscheint die zierliche Frau mit dem kurz geschnittenen Haar, schält sich aus der Mauer rechts hervor, geht am Fenster vorbei und schiebt sich allmählich in die Wand gegenüber. Langsam. Konzentriert. Zwölf Stunden lang.

Westlich vom Zentralplatz ein ganz anderes Bild. Vogelgezwitscher füllt einen leerstehenden Verkaufsraum an der Rüschlistrasse 31. Entschlossen treten die Neugierigen in den den dunklen Raum. Die Trennlinie zwischen Akteuren und Passanten verschwimmt. Die vielstimmigen, vibrierenden Klänge einer Zimbel, direkt auf dem Kopf paltziert, ermöglicht ein neues Erleben. Die Töne gehen durch den Körper, werden bis in die innersten Tiefen reflektiert, zitternd, sanft, öffnend und voller Wärme. Zwölf Stunden lang.

In der ganzen Stadt Bewegung. Menschen, die nach dem Sinn dessen suchen, was sie sehen. Zwölf Menschen gehen, zwölf Stunden lang, jeder auf seine Weise. Sie gehen in der Stadt, sie gehen im Seeland, gehen der alten Römerstrasse entlang. In Siselen treffen sie durchnässt in der Galerie 25 ein. Galeristin Regina Larsson geht auch und modelliert zwischendurch mit Ton. Doch nach und nach versinkt sie im Gehen, das Modellieren geht beinahe vergessen, nur die Ruhe begleitet sie. Zwölf Stunden lang.

Nach Mitternacht geht ein "Blinder" unglaublich langsam durch den Regen und sein Stock geht ihm voran. Die Menschen lachen, bleiben verwundert stehen, versuchen ihn zu erschrecken und ergehen sich in grenzenlosem Staunen. Unbeirrt geht der vermeintlich blinde Jürgen Müller-Othzen weiter durch die Bieler Strassen und Gassen. Zwölf Stunden lang.

Ich du, er sie, es; wir alle gehen, und nicht nur zwölf Stunden, sondern ein Leben lang. Meist gehen wir, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich, du, er, sie, es; wir gehen, jeder in eine andere Richtung, jeder in seinem eigenen Rhythmus, auf seine eigene Weise - und wohin gehen wir?

 

(12 Stunden Gehen)