22.11.2024
Thomas Zollinger: Künstler probt Existenzsicherung
"Auch wer nicht verdient, arbeitet"
Patrick Probst
Vom Lehrerberuf hatte Thomas Zollinger genug, also machte er sich zum Künstler. Weil er sich nicht am Markt ausrichten will, lebt er von der Fürsorge.
12 Monate lang verschrieb sich der ehemalige Primarlehrer Thomas Zollinger seiner Gesamtperformance «CH liebt Kunst». Er reduzierte das Leben auf dessen elementare Handlungen: Sitzen, Stehen, Liegen, Gehen, Atmen, Lieben, Pissen, Scheissen, Essen, Trinken. So sass er vor einem Glas Wasser und wartete darauf, bis der Arm sich hob und das Wasser an seinen Mund führte. Eine Kamera filmte die Rituale: Wie der Körper seine Bedürfnisse meldete.
Daneben begehrte Zollinger während des ganzen Jahres vom Staat die Existenzsicherung. Darauf baute er sein Leben für die brotlose Kunst auf. Seine trotzige Haltung: «Als Künstler empfinde ich die Notwendigkeit, mich am gesellschaftlichen Wandel auszurichten, und nicht am Markt.»
Der Lehrbetrieb ist Zollingers Sache nie gewesen. Mit Stellvertretungen hat er sich bloss über Wasser gehalten, um sich daneben der Kunst zu widmen. Vor zwei Jahren beschloss er, diesen unbefriedigenden Kompromiss aufzuheben. Ein unmotivierter Lehrer sei ein schlechter Lehrer, sagte er sich. Solle besser ein anderer an seine Stelle treten. Er meldete sich arbeitslos, stempelte sich durch die Bezugstage der Arbeitslosenversicherung, liess sich im August 1998 aussteuern. Zollinger begab sich in beste Gesellschaft. Rund 4500 Bielerinnen und Bieler leben heute von der Fürsorge. Am Ende des industriellen Zeitalters bietet die globalisierte und rationalisierte Wirtschaft nicht mehr Arbeit für alle. Deshalb hält Zollinger das garantierte Mindesteinkommen für angebracht. Wolle die Wirtschaft ihr System von unrentablem Menschenballast isolieren, müsse sie diesen entschädigen.
«Gebt ihnen Geld!»
So sozial der Gedanke scheint, so liberal theoretisierte dessen Schöpfer: Milton Friedman, Einflüsterer des früheren amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, tat den berühmten Ausspruch: «Gebt ihnen Geld!» Lieber als ein Staat, der zwischen sozialen und wirtschaftlichen Anliegen vermittelt, war ihm eine klare Trennung: Hier die autonome Wirtschaft, dort die Existenzsicherung für die Ausgeboteten.
Im letzten September, nach Ablauf seiner Jahresperformance, zog Zollinger Bilanz: Künstlerisch wie sozialpolitisch schien ihm sein Experiment geglückt. Der Film «Kunst ist - 24 Stunden Performance» läuft an der Bieler Weihnachtsausstellung; - und der Staat hat ihn nicht hängen lassen. Im minuziös geführten Dossier «Testheimat CH» hält Zollinger fest: «Die Existenzsicherung des Künstlers über die Sozialhilfe ist möglich, auf Begeisterung stösst er bei den Behörden damit nicht. Er muss mit Schikanen und Einschüchterungen rechnen.»
Zollinger weigerte sich, in ein Beschäftigungsprogramm einzutreten oder Arbeit zu suchen, wie dies der Staat von Sozialhilfe-Bezügern verlangt. Das Sozialamt strich ihm deshalb den Grundbedarf II, das sogenannte Taschengeld. Aber es liess die Drohung fallen, den Grundbedarf I von 1010 Franken um 15 Prozent zu kürzen, wie dies bei unfolgsamen Ausgesteuerten möglich wäre.
Auf dem Bieler Fürsorgeamt ist der Sozialarbeiter Sandro Fischli mit dem Fall Zollinger betraut. Nach dem Gesetz, betont er, müsse jeder so viel wie möglich zu seinem Auskommen beitragen. Genau dies habe Zollinger unterlassen. Er halte ihm aber zugute, dass er als Künstler sehr aktiv sei und auf seine Weise nicht in die Arbeitswelt integrierbar.
Weil der Staat den Ausgesteuerten über den Grundbedarf I hinaus auch Miete und Krankenkasse entrichtet, kommt Zollinger über die Runden. Fischli spricht deshalb von einer «informellen Existenzsicherung».
Sein Vorgesetzter, der Bieler Sozial- und Fürsorgedirektor Hubert Klopfenstein, brauchte diesen Sommer noch deutlichere Worte: «Wir sind verpflichtet, fürs Existenzminimum aufzukommen.» Weil für weitere Leistungen kein «klagbarer Anspruch» bestehe, wollte er aufs bevorstehende Jahr hin allen Fürsorge-Bezügern den Grundbedarf II streichen. Der Kanton pfiff ihn zurück und gestattete ihm nur eine Kürzung des «Sackgelds» von 100 auf 45 Franken.
Nicht verhungern lassen
Das Existenzminimum als Grundrecht ist in den Schweizer Gesetzen nirgends verankert. Allerdings hat das schweizerische Bundesgericht am 27. Oktober 1995 ein Recht aufs Minimum an staatlicher Fürsorge anerkannt. «Es hat schon immer gegolten, dass der Staat die Menschen, die sich auf seinem Territorium befinden, nicht verhungern lässt», sagte ein Bundesrichter.
Dem ungeschriebenen Verfassungsrecht einen konkreten Namen zu geben, drückte sich das hohe Gericht. Der Begriff der Existenzsicherung scheint belastet, denn er verstösst unterschwellig gegen die calvinistische Arbeitsmoral. Er gilt als Einladung dafür, sich dem süssen Leben eines Taugenichts hinzugeben - wo doch die «vita activa» der «vita contemplativa» vorzuziehen sei, die Tätigkeit der geistigen Reflexion. Zollinger hält es nicht mit Calvin. Er ist überzeugt, dass jemand, der vom Staat die Existenzsicherung einfordert, trotzdem ein verdientes Leben führe, seiner Natur gemäss nach Inhalten suche, die einen erfüllen. Er selber, gibt er zu bedenken, habe während seiner Jahresperformance praktisch rund um die Uhr gearbeitet. Selbst das Schlafen unterwarf er einem Ritual.
Ihm das Wort redet Erich Fromm, der angesehene Psychoanalytiker: «Sicher würden viele Leute gerne für ein oder zwei Monate nicht arbeiten. Die allermeisten würden aber dringend darum bitten, arbeiten zu dürfen, selbst wenn sie dafür nichts bezahlt bekämen.
»Nach Möglichkeiten der Existenzsicherung hat sich Zollinger auch auf dem Bundesamt für Kultur erkundigt. Er verlegte sich auf die Neue Bernische Kantonsverfassung, den Artikel der Kunstfreiheit und die Anmerkung: «Die Kunstfreiheit schützt sowohl den Prozess des künstlerischen Schaffens, als auch das Resultat, das Kunstwerk selber.» Sei der Prozess zu schützen, interpretiert Zollinger, so gewiss auch die Existenz - «sie ist in der Performance das Werk».
Christoph Reichenau, Vizedirektor des Bundesamtes, schliesst eine Existenzsicherung für Künstler aus. Dafür reichten die Mittel nicht. Es bestünden aber eine Reihe von Fonds, um einem Künstler im Notfall Geld für eine Arztrechnung vorzuschiessen, ehe die Sozialhilfe einspringe.
Kampf geht weiter
«In den letzten zwei bis drei Jahren verarmten immer mehr Künstler», stellt Reichenau fest. Immer mehr Leute wollten als Künstler leben. Die Nachfrage nach Kunst aber stagniere, wie auch deren Subvention.
Über seine Person als Künstler, den der Markt nicht begehrt, lässt Zollinger nicht streiten. Er ist überzeugt, dass seine Auseinandersetzung mit dem Leben der Gesellschaft nützlich sei. Er verweist auf des Künstlers Joseph Beuys' tolerante Definition: «Jeder Mensch ein Künstler.» Und ist überzeugt, dass die Einführung der Existenzsicherung nur eine Frage der Zeit ist: «Ob in 5 oder 30 Jahren: Sie kommt bestimmt.» Die Performance ist zu Ende. Doch kämpft er weiterhin um eine Existenzsicherung für alle durch den Staat.
(CH liebt Kunst, soziale Existenz)