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BUND 02.02.2001

«Da ist einer in Biel, der stellt so komische Fragen»

Karoline Arn

Seit drei Jahren erklärt der Performer Thomas Zollinger seine Existenz zum Kunstwerk. Aus der Kunstfreiheit leitet er seine Forderung nach einem Mindesteinkommen als Künstler ab. Die Stadt zahlt, aber Fürsorgegelder. Zollinger hat mit seiner Forderung mehr Zorn auf sich gezogen als Anerkennung geerntet. Seine Performance spielt auf der Verwaltungs- und Alltagsbühne.

Um sieben Uhr steht er auf. Macht Bewegungsübungen, trinkt einen Tee. Liest sich aus einem französischen oder englischen Buch laut vor. Geht einkaufen und bereitet sich zum Zmittag ein Müesli vor.

Um zwölf Uhr geht er ins Atelier, dort macht er die künstlerische «Knochenbüez», erledigt Administration und Schreibarbeiten, sichtet Videos und wertet sie aus, arbeitet an Projektideen. Um sechs Uhr verlässt er das Atelier. Als Tagesabschluss geht er immer mindestens zwei Stunden umher, drinnen oder draussen. Als Performance-Künstler benötigt der 48-jährige Thomas Zollinger für Bewegung viel Zeit.

Deutsch und Welsch

Zollinger ist in Stäfa am Zürichsee aufgewachsen und während seines Lehrerstudiums als Bahn-Steward öfters nach Biel gereist. «Da zog es mich immer hin, weil ich das Welschland spürte, bereits am Bahnhof, an der Architektur, und ich dachte, diese Stadt als Sprachgrenze ist etwas ganz Besonderes.» Als vor vierzehn Jahren sein Sohn auf die Welt kam und seine Partnerin in Bern eine Arbeitsstelle fand, nutzte er die Gelegenheit und zog nach Biel.

Wäre er an seinem letzten Wohnort, in Wädenswil, geblieben, wäre er in die Politik eingestiegen. «Ich wäre als SPler in den Gemeinderat gerutscht», ist Zollinger überzeugt. Stattdessen entschied er sich für Kunst. Als Politiker wäre er krank geworden, er könne nicht so viel reden und sitzen.

In Biel arbeitet Zollinger teilzeitlich, als Lehrer oder Buchbinder beispielsweise, um sich seine künstlerischen Tätigkeiten zu finanzieren. Vor drei Jahren beschloss er, die verfassungsrechtliche Kunstfreiheit umzusetzen.

Politik und Kunstfreiheit

Im September 1998 startet er das Projekt «12 Monate Performance CH liebt Kunst», in welcher er seine Existenz zum Kunstwerk erklärt. Da die Kunstfreiheit verfassungsrechtlich gesichert ist, leitet er daraus eine Forderung für ein Mindesteinkommen als Künstler ab und überschreitet bewusst die Grenze zur Politik: «Mein Projekt ist so angelegt, dass es als Präzedenzfall dienen kann.» Zollinger fordert die Stadt Biel und den Bund zu einer unkonventionellen Zusammenarbeit auf: Er arbeitet als Künstler und will dafür ein Mindesteinkommen. Das Bundesamt für Kultur zeigt zwar Verständnis für sein Anliegen, kommt aber zum Schluss, dass sich die Kunstfreiheit in der Verfassung auf den Inhalt, nicht auf die Entstehung bezieht. Eine Existenzsicherung wird abgelehnt und Zollinger an die Fürsorge weiterverwiesen. Ende 1999 liegt ein Abschlussdossier der jährigen Performance mit dem Titel «Testheimat Schweiz» vor - eine Zusammenstellung aus Gesetzesparagrafen, Notizen, Zeitungsartikeln und Briefwechseln mit Behörden. In einem «Katalog der 144 veröffentlichten oder öffentlichen Ereignisse» wird die künstlerische Umsetzung festgehalten. Das Projekt ist aber damit nicht abgeschlossen.

Würde und Einkommen

Das Fürsorgeamt sichert zwar Zollingers Existenz. Doch er findet Fürsorgebeiträge entwürdigend und möchte ein Mindesteinkommen. In zahlreichen Briefen versucht, er den Unterschied zwischen Fürsorgegeldern und einem Mindesteinkommen den Behörden zu erklären. Sie können aber weder gesetzlich noch ideell auf seine Forderungen eintreten.

Kunst und Leben

Die philosophische Frage «Was bin ich? Was will ich?» stellt er sich immer wieder und beantwortet sie mit der «Inszenierung des Tages» in einer möglichst minimalen Form. In Performance stellt er Gehen, Schlafen oder Trinken pur dar. Im Rahmen der Weihnachtsausstellung 1999 nutzt er das ehemalige Kaufhaus Bourg, um ein «Gegenstück zum weihnachtlichen Konsumfest» darzustellen. 24 Stunden gehen Zollinger und andere Mitwirkende im leeren Ladenlokal oder im Schaufenster umher, trinken Wasser. Im Sommer 2000 trägt Zollinger während 12 Stunden Wasser von der Gewölbe-Galerie aus in verschiedene öffentliche oder private Räume. Er inszeniert eine möglichst minimale Handlung. Die Zuschauenden werden selber zu Akteuren, indem sie kommen, zuschauen oder weggehen. Zollinger verlegt die Grenzen seiner Kunst so nahe an den Alltag, dass sie sich gerade noch von ihm abhebt.

Zorn und Anerkennung

Während die künstlerischen Werke Zollingers in Biel und auch im Kunsthaus Glarus in der Presse durchaus gewürdigt werden, stossen vor allem die unverfrorenen finanziellen Forderungen bei Behörden, Politikern und in der Öffentlichkeit auf Widerstand.

Das Fürsorgeamt wertet Zollingers Werke nicht als Arbeits- oder Integrationsbemühungen und streicht ihm den Grundbedarf II, das Taschengeld. Obwohl er alle schriftlich eingeladen hat, findet sich kein einziger Politiker, keine einzige Politikerin in Biel, die bei der Performance «12 Stunden Gehen» mitmacht. Eine Privatperson geht schliesslich 12 Stunden im öffentlichsten Raum von Biel, nämlich auf dem Dach der Bushaltestelle Zentralplatz, umher, das Pendant, eine öffentliche Person, die in einem privaten Raum 12 Stunden lang geht, fehlt. Am deutlichsten aber äussert sich der Zorn über Zollingers Forderungen in den zahlreichen erbosten Leserbriefen auf die Artikel zu Zollingers Wirken.

Grenze ziehen

Das Unterstützungsgesuch für das letzte Projekt, eine Performance im Centre PasquArt, liegt nun bei der Bieler Kulturkommission. Zollinger fordert die Stadt Biel auf, acht Monate Existenz plus Materialkosten, rund 20 000 Franken, zu bezahlen. In den nächsten Wochen werde der Entscheid darüber wohl fallen: «Künstlerisch gesehen gäbe es sicher Gründe, das Gesuch gutzuheissen. Aber politisch sehe ich leider wenig Chancen», meint Zollinger. Wenn die Finanzierung nicht zustandekommt, bleibt das Projekt im «Labor». Nach diesem Versuch muss Zollinger eine Grenze ziehen. «Ich muss einen Schnitt machen, zu meinem Schutz.» Biel sei eine Station gewesen. Weitergehen ist wie immer sein Programm..

 

(CH liebt Kunst, Künstler-Existenz)