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Journal Rennweg 26, März 2000

Interview

"Kunst - ein Fall fürs Sozialamt?"

Matthias Rüttimann

Jeder Mensch hat laut Bundesgerichtsurteil (vom 27.10.1995) das Recht auf Existenzsicherung. Das gilt auch für den Künstler, sagte sich Thomas Zollinger und lud die Stadt Biel zu einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit ein. Der Bieler Künstler vollzog die "12 Monate Performance CH liebt Kunst" und liess sich während dieser Zeit von der Fürsorge das soziale Existenzminimum ausbezahlen. Als das Bieler Tagblatt in einem Artikel über dieses Experiment berichtete, erhielt Zollinger geharnischte Briefe und anonyme Anrufe, die soweit gingen, den Künstler aufzufordern, sich aus der Welt zu schaffen.

Thomas Zollinger, hast du mit solchen Reaktionen gerechnet?

Irgendwie schon. Mit meinem Handeln hinterfrage ich das gängige Arbeitsethos und dehne den Kunstbegriff sehr weit aus. Ich erklärte, während 12 Monaten nur Arbeiten anzunehmen, die sich aus dem künstlerischen Prozess heraus aufdrängen oder die andern Menschen einen künstlerischen Prozess ermöglichen.

Wie ist das zu verstehen?

Ich habe anerboten, jemanden an seinem Arbeitsplatz zu ersetzen unter der Bedingung, dass diese Person sich auf einen künstlerischen Prozess einlässt.

Nehmen wir an, eine alleinstehende Mutter hätte sich gemeldet und gesagt, Herr Zollinger springen Sie für mich ein, ich gehe zwei Wochen nach Teneriffa. Meine Performance besteht in der elementaren Handlung in der Sonne auf der faulen Haut zu liegen.

Würde ich sofort akzeptieren. Wenn diese Frau nach Teneriffa fährt, ist ihr gleichzeitig bewusst, dass jetzt jemand für sie in der Schweiz arbeitet. Das bringt etwas in Gang. Soll sie endlich einmal so richtig aurf die faule Haut liegen. Ich gönne es ihr. Aber sie soll es richtig versuchen. Liegen ist ziemlich anspruchsvoll. Keine Bewegung, ausser Atembewegung. "The perfect performance ist to stand still", sagt der Performance-Künstler James Lee Byars. Liegen und Stehen sind zwei der elementaren Handlungen, die ich in der 12 Monate Performance zu ritualisieren versucht habe.

Hat sich jemand auf dein Angebot konkret gemeldet?

Zwei Frauen haben es erwogen, aber dann keinen Gebrauch davon gemacht.

Stattdesssen wurde dir in Leserbriefen vorgeworfen, du seist ein Schmarotzer. Mit der Begründung, wie eine Verfasserin schreibt: "Es darf nicht sein, dass Menschen aus Überzeugung keiner Lohnarbeit nachgehen, ohne dass sie sich diesen Freiraum finanziell leisten können (Bieler Tagblatt 4.1.2000).

Neid und Unzufriedenheit pur. Weit verbreitet. Ich würde die Schreiberin gerne fragen, ob sie jeden Moment hundertprozentig ja sagen kann zu dem, was sie gerade tut. Wenn dem so ist, hat sie keinen Grund mehr neidisch zu sein. Mit einem Mindesteinkommen könnte sie sich freier entscheiden.

Nicht nur der Künstler sollen ein solches Mindesteinkommen erhalten?

Alle sollen es erhalten, ohne Auflagen und Bewertungen. Wenn jede und jeder ein Mindesteinkommen hat, dann ist er mit der künstlerischen Lebensgestaltung konfrotniert. Dann steht an erster Stelle nicht die Frage, wie finde ich Arbeit, um meine Existenz zu sichern. Oder der Satz: Ich bin nur jemand, wenn ich lohnarbeite. Sondern Kernfrage wird: Wie gestalte ich meine Existenz. Will jemand mehr verdienen, dann nimmt er eine Lohnarbeit an, weil er sich auf diese Weise verwirklichen will.

Kann sich die Schweiz dies leisten?

Als Modell zur Finanzierung kann die negative Einkommenssteuer angewendet werden, die ursprünglich von liberaler Seite vorgeschlagen wurde. Wer kein existenzfähiges Einkommen erreicht, bekommt vom Staat Steuern ausbezahlt.

Und wird zum Künstler?

Nein. Er oder sie ist es schon, im Kern. Wobei Kunst im engeren Sinn von Lebenskunst im weitesten Sinn zu unterscheiden ist. Liegen oder Stehen beispielsweise kann ich überall. Das hat mit Lebenskunst zu tun wie etwa Yoga. Kunst im engeren Sinn wird es erst durch die Inszenierung. An einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit bezogen auf eine bestimmte Situation. Kunst ist nicht privat.

Liebt die Schweiz Kunst, wie du im Titel deiner Performance behauptest?

Die Schweiz hat das innere Potential dazu. Im Handbuch zur Neuen Bernischen Kantonsverfassung steht: "Die Kunstfreiheit schützt sowohl den Prozess des künstlerischen Schaffens, als auch das das Resultat, das Kunstwerk selber." Und in der neuen Bundesverfassung, die seit dem 1. Januar in Kraft ist, heisst es: "Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet." In diesen Artikeln steckt ein Potential. Warum nicht versuchen, es freizulegen? Wer den Prozess des künstlerischen Schaffens schützen will, kann Kulturschaffende nicht, wie es die aktuelle Kulturförderung tut, zu Künstlern von Fall zu Fall machen. Das geht am Wesen der Kunst vorbei. Werkbeiträge reichen oftmals kaum zur Realisierung eines Werks geschweige denn zum Leben. Die Kulturförerung sollte auf einer neutralen Existenzsicherung aufbauen.

Hat die Schweiz zu viele Kulturschaffende?

Wären es weniger, könnten mehr von dem, was sie tun, auch leben. Es ist doch schön, dass heute so viele Leute künstlerisch schaffen. Das sehe ich positiv als Errungenschaft unserer Gesellschaft. Darüber kann man sich freuen. Ich bin davon ausgegangen, als würden sich alle freuen, also "CH liebt Kunst". Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus, was die Kunst betrifft. Aber ein Kompliment mache ich diesem Land gerne. Immerhin wird die Existenz eines Menschen respektiert. Das verfassungsrechtlich geschützte absolute Existenzminimum beträgt 850 Franken plus Miete plus Krankenkasseprämie, laut Bundesgerichtsentscheid von 1995. Insofern habe ich eine Botschaft an all die Leute, welche wegen befürchteter Stigmatisierung nicht oder mit einem schlechten Gewissen zum Sozialamt gehen: Holt euch das Geld, erklärt euch nicht, ihr habt das Recht darauf. Das gilt für alle, auch für die Künstler. Die Performance ist beendet.

Wovon lebst du jetzt?

Momentan erhalte ich das soziale Existenzminimum von 1010 Franken. Ich lebe also noch von der Fürsorge, da ich die Ausweitung als Teil des Projekts betrachte. Wenn diese Arbeiten abgeschlossen sind, will ich nicht mehr von der Fürsorge leben. Meine finanzielle Abhängigkeit vom Staat ist als Teil der künstlerischen Handlung zu verstehen, welche die Existenz verhandelt. Was danach kommt, weiss ich nicht.

Das Gespräch führte Matthias Rüttimann

 

(CH liebt Kunst, soziale Existenz)